Der Strömungsumschlag

Laminar oder Turbulent oder was?

Eins vorweg: Was wir hier jetzt in dieser kleinen intimen Runde besprechen werden, ist leider ein nicht ganz einfaches Thema. Das Thema an sich wäre einfach, wenn nicht Jahre- und jahrzehntelang so viel Mist darüber aus unberufenem Munde geschrieben worden wäre. Nicht dass ich mich berufen fühle - Gott bewahre - nein! Deswegen werden wir uns im Anschluss an den Artikel in den Windkanal begeben, um uns die wirklichen Verhältnisse anzuschauen und vor allem anzuhören. Wenden wir uns jetzt einem kleinen Ausschnitt dieses überaus turbulent diskutierten Themas zu, der Frage nach der laminaren und turbulenten Strömung.

Der nächste Absatz ist für eine bestimmte Art von Leuten gedacht, die gerne Emails schreiben, weil ich so dumm bin und keine Ahnung habe. Stimmt! Aber ich mache mir nichts draus und denke vor allem nicht, dass ich schlauer wäre als alle anderen. Ich persönlich fasse es daher als reine Schutzmaßnahme gegen diese Emails auf, die sonst unnötigerweise meine Mailbox verstopfen. Deswegen solltet ihr die nächsten Zeilen einfach überspringen, sie stiften bei Euch nichts als Verwirrung...

Es geht hier nur um Profile, die überkritisch mit mindestens Re>80000 umströmt werden. Reynolds-Zahlen, bei denen es laminare Ablösungen am Profil gibt (kein Wiederanlegen der Blase), werden hier nicht behandelt. In diesem Artikel erscheinen nur laminare Ablöseblasen, die sich ordnungsgemäß wieder anlegen. Kuhfangzäune wink (gespannter Draht vor der Nasenleiste) gehören nicht zum hier besprochenen Themenkomplex, weil Profile, die von einer solchen Maßnahme profitieren, ausschließlich Profile im unterkritischen Einsatzbereich sind, die man auf diese Weise zu einem überkritischen Verhalten zwingt. Und genau dieses Spezialgebiet soll hier keine Rolle spielen.

 

Das Märchen vom Turbulenzprofil

Es war einmal ein Buchautor, der faselte etwas von Turbulenzprofilen. So seien zum Beispiel das Clark Y oder die NACA 4-digit (NACA XXXX, zum Beispiel NACA 2412) "Turbulenzprofile". Fortan schrieben alle Leute von diesem Buchautor ab und es ward das Märchen vom Turbulenzprofil geboren. Das Turbulenzprofil heißt so, weil mitten drauf Turbulenzprofil steht. Nun fliegt ein wagemutiger Pilot eines Tages mit diesem Turbulenzprofil umher und trifft sekündlich Abermillionen ungezählte kleiner Luftteilchen. Hier wird die Unendlichkeit wahrhaft begreifbar, denn diese Zahl lässt sich nicht mehr sinnvoll angeben, so groß ist sie.

Ein kleines armes Luftteilchen mit gewerkschaftlich garantierter 35-Stunden Woche schwirrt in der Luft herum und freut sich seines Lebens. Auf einmal kommt da der Flieger an! Mann, fliegt der schnell! Es hat kaum Zeit abzulesen, welches Profil der fliegt, denn es steht in seinem Arbeitsvertrag, dass es die Betriebsanleitung lesen muss, bevor es einem Flugobjekt zum Fliegen verhilft.

Luftteilchen

"Aha, ein Turbulenzprofil!" Daraufhin fängt es an, wild herumzuschwirren, damit gleich an der Profilnase turbulente Strömung herrschen möge und ihm daher nicht gekündigt werden könne. So tat es dies, tagein, tagaus und wenn es nicht gestorben ist, dann schwirrt es noch heute.

Das ist das Märchen vom Turbulenzprofil und wenn es nicht mal irgendjemand bei Gelegenheit in die Luft sprengt oder es sich in selbige auflöst, dann wird das Märchen auch noch in hunderten von Jahren so erzählt. Ich entscheide mich für die letztgenannte Variante, weil mir das sicherer erscheint. Sonst kommt mir noch irgendein Bombenräumkommando dazwischen und das Märchen stirbt nie aus.

Es gibt lediglich eine winzig kleine Randgruppe von Profilen für den ganz niedrigen Reynolds-Zahl Bereich (Re<50 000), die mit Hilfe einer messerscharfen Nasenleiste versuchen, den turbulenten Umschlag frühzeitig zu erzwingen. Einzig diese Gruppe von Profilen dürfte im engeren Sinn den Namen "Turbulenzprofil" tragen, obwohl auch sie lange laminare Strömungsbereiche kennen. Hier ist das Ziel der Profilauslegung primär die Erzeugung von frühzeitiger Turbulenz, damit eine überkritische Profilumströmung erzwungen werden kann.

 

Luftteilchen kennen keine Vorurteile!

Nach diesem kleinen Exkurs kehren wir ins richtige Leben zurück. Und hier können wir wirklich etwas von den Luftteilchen lernen: Die Luft kennt keine Vorurteile! Wir fliegen heute brav im reinen Unterschall, denn wir wollen die Luftteilchen nicht mit unserem plötzlichen Erscheinen ohne Vorankündigung erschrecken. Noch bevor wir mit unserem Flügel ankommen, klingelt unsere Saugspitze beim Luftteilchen an und sagt: "Guten Tag, wir sind ein Flügel und wollen gleich etwas Auftrieb spendiert bekommen. Wären Sie so freundlich, sich etwas zu erheben?"

Das kleine Luftteilchen weiß zu diesem Zeitpunkt also nur, dass da ein Flügel ankommen wird, kennt aber keine Details, schon gar keine vom Profil. Ob eine zickige spitze oder gutmütige runde Nase vorbeikommen wird, erkennt das Luftteilchen noch nicht, wir sind noch ein Stückchen weit vor dem Profil. Wir fliegen irgendwo im mittleren Anstellwinkelbereich herum, wo es sich angenehm fliegen lässt, vielleicht 3°.

Luftteilchen jump

Unser Luftteilchen strömt heute auf der Profiloberseite vorbei. Die dicke Aufschrift "Turbulenzprofil" kann es daher nicht lesen, weil die für unser Luftteilchen auf dem Kopf steht. Abgesehen davon interessiert sich unser Luftteilchen nicht für irgendwelche Beschriftungen und schon gar nicht für so irrige Bezeichnungen wie "Turbulenzprofil". Selbst wenn "Scheißhaus" draufstünde, würde das Luftteilchen zusammen mit seinen Kollegen schön geordnet in Reih und Glied über die Profiloberseite strömen. Nach einiger Zeit treten unter den Luftteilchen langsam Meinungsverschiedenheiten auf, ob das nun wirklich in Ordnung ist, laminar weiterzuströmen. Irgendwann entschließen sie sich dann, turbulent umzuschlagen und fließen nach hinten ab. Es artet in einem leichten Tumult aus, aber am Ende freuen sich alle, wieder zusammen zu sein. Eigentlich wirklich nichts Besonderes, jeder längere Partyabend verläuft so. Warum sollte es bei der Strömung anders sein als im normalen Leben?!

 

Der große Lauschangriff

Jetzt begeben wir uns gemeinsam in den Windkanal und belauschen die Luftteilchen bei ihrer Arbeit. Es klingt wie eine Mischung aus "In Stahlgewittern", "Kettensägen-Massaker 3" und einer synthetischen Kakophonie, aber hört selber. Zur Veranschaulichung sind zusätzlich die üblichen Wollfäden aufgeklebt, aber gerade die Tonaufnahme mit dem Hörrohr zeigt deutlich, wo welcher Strömungszustand anzutreffen ist, inklusive Umschlag (Transition) in turbulente Strömung. Die beim Umschlag auftretende laminare Ablöseblase haben wir bisher nicht besprochen, sie sei nur der Vollständigkeit halber erwähnt und wird im Video gezeigt.

Das Schönste aber ist, dass man anhand der rechts eingeblendeten Anstellwinkelskala mitverfolgen kann, wie der Umschlagspunkt laminar/turbulent schlichtweg vom Anstellwinkel abhängt und nicht von irgendwelchen Märchen, Mythen und Beschriftungen. Das Profil ist eines von der Sorte, das man getrost als "Turbulenzprofil" bezeichnen würde und wie man sehen und hören kann, schert es sich einen Teufel darum. Das Problem beim Begriff "Turbulenzprofil" ist einfach, dass auch ein Turbulenzprofil problemlos 50% oder gar 100% laminare Laufstrecke aufweisen kann und eben nicht zu 100% turbulent umströmt wird, wie in einigen "Fachbüchern" nachzulesen ist. Deswegen vergessen wir diesen unglücklichen Begriff einfach und reden zukünftig bestenfalls von einem "Laminarprofil", denn dem können im Gegensatz zum "Turbulenzprofil" charakteristische Merkmale anhand der Widerstandspolare zugeordnet werden.



Dieter Sartorius:
Der Strömungsumschlag laminar - turbulent
Strömungsvisualisierung und Transition im Modellwindkanal.
Institut für Aerodynamik und Gasdynamik (IAG) Universität Stuttgart
© Copyright IAG 2002
wmv
11.40 MB


Video


Dieses Video verdanken wir Dieter Sartorius, seines Zeichens ehemaliger Mitarbeiter am IAG der Universität Stuttgart. Die Aufnahmen entstanden im "Stuttgarter Modellwindkanal". Das ist der Windkanal, der insbesondere durch die Messungen von Dieter Althaus "Profilpolaren für den Modellflug" bekannt wurde.

 

Schlusswort

Historisch betrachtet entstand der Begriff des "Laminarprofils" Mitte der 30er Jahre, als man experimentell im Windkanal feststellte, dass es Profile mit deutlich geringerem Widerstandsbeiwert gab, als altbekannte. Anfangs wollte das niemand so recht glauben und die deutschen Wissenschaftler gingen zunächst von einem Messfehler aus. Im Flugversuch in den 40er Jahren bestätigte sich dann das Phänomen und daher etablierte sich der Begriff des Laminarprofils insbesondere im Bereich des bemannten Segelfluges. Heute weiß man, dass diese Laminarprofile nur in einem mittleren Re-Zahlbereich funktionieren. Liegt man zu niedrig, wie im Modellflug, droht laminare Strömungsablösung. Liegt man bei einer Reynolds-Zahl im zweistelligen Millionen Bereich, wie das bei Passagierflugzeugen mit Düsenantrieb der Fall ist, ist die Grenzschicht zu dünn, wodurch faktisch keine laminare Umströmung mehr zustande kommt. Man kann mit vielen Tricks im wissenschaftlichen Bereich hier auf ganz kurzen Strecken noch laminare Strömungen erzeugen, aber das ist ein akademisches Thema und in der Praxis trotz vieler Großforschungsvorhaben bis heute nicht relevant.

Irgendwo zwischen Reynolds-Zahlen von 400.000 bis 6 Millionen funktioniert also ein Laminarprofil wie gewünscht, darunter und darüber aber nur eingeschränkt bis gar nicht. Und in diesem Reynolds-Zahl Bereich zeigt auch ein "Turbulenzprofil" laminare Eigenschaften, nur erreicht es nicht so lange laminare Laufstrecken wie ein "Laminarprofil" und weist deswegen einen größeren Profilwiderstandsbeiwert (cw) auf. Oberhalb dieses Reynolds-Zahl Bereichs kommen wir bei bemannten Flugzeugen in den Bereich schallnaher Strömungen (transsonisch), bei der die Profile vollturbulent umströmt werden. Das ist ein eigener Bereich mit anderen Regeln, in dem es um die Vermeidung starker Stoßfronten trotz lokaler Überschallgebiete geht. Eine Diskussion über laminare Laufstrecken bei Reynolds-Zahlen von 20 Millionen und mehr erübrigt sich bei Luftströmungen, das ist ein kurzes Thema: beendet!

Nachdem sich nun hoffentlich die Wolken und Nebel rund um das Thema Strömungsumschlag, turbulente und laminare Strömung ein klein wenig gelichtet haben, kommen wir kurz auf den Sinn oder Unsinn dieses Artikels zu sprechen. Ziel dieses Artikels ist es, sich dem Thema von einer ganz anderen Seite zu nähern, als das sonst der Fall ist: pragmatisch, logisch und experimentell. Diese ganze Umschlagsgeschichte kann man natürlich auch in den rechnerischen Profilpolaren wiederfinden, zum Beispiel im ausführlich erläuterten Profilvergleich E205-SD7037. Bei Gelegenheit werde ich sicher noch den einen oder anderen Artikel in diese Richtung schreiben, dieser hier soll nicht der letzte gewesen sein. Ob das nun eine Drohung ist oder nicht, kann jeder für sich selbst entscheiden!