Datenblatt | |
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f [%] | 2,47 |
fx [%] | 33,6 |
d [%] | 10,23 |
dx [%] | 32,0 |
rLE [%] | 0,900 |
ΔΘTE [°] | 20,86 |
cm0 [-] | +0,0578 |
a0 [°] | +1,068 |
∂ca⁄∂a | 6,794 |
Mitte der 80er Jahre wurden in der Nurflügelszene Erkenntnisse in homöopathischen Dosen unter den wenigen Eingeweihten in losen Kopien Sammlungen per Brief oder bei Treffen außerhalb der Öffentlichkeit ausgetauscht. Man stürzte ab, baute neu und mit etwas Glück lernte man beim nächsten Absturz, warum die zwei Modelle zuvor abgestürzt waren. Kein Hobby für Weicheier. Alfons Rieger stand 1986/87 vor dem trivialen Problem, kein geeignetes Profil für sein Brettprojekt »N-87 Sirius« zu haben, also entwickelte er mit Hilfe von Martin Lichtes Buch ein Profil selber, das AR 193-S75. Das war das Geniale an diesem Buch, es enthielt die Quintessenz dessen, was man für einen Profilumbau von einem vorhandenen Normalprofil auf ein S-Schlagprofil ohne Computerhilfe benötigte. Auf Grundlage der Skelettlinientheorie konnte man mit einem tabellarischen Verfahren Nullmomentenbeiwerte und Nullauftriebswinkel der Profile berechnen. Die geometrische Herleitung vom E193 mit zeichnerischen Methoden erklärt auch die Notwendigkeit des Glättens der Koordinaten für weitergehende Berechnungen und Analysen.
Im Rahmen der Flugerprobung hat sich das Profil als nicht ganz unproblematisch herausgestellt. Im schnellen Gleitflug und beim Hangflug funktioniert es tadellos, aber sobald man etwas verzögert, fällt das Brett wie ein Stein vom Himmel. Wer das Original E193 einmal erprobt hat, kennt das Phänomen nur zu gut, das AR 193-S75 wird darüber hinaus auch teilweise unsteuerbar. Warum das? Nun, beim Brett sind im Gegensatz zum Leitwerkler auch die Höhenruderklappen am Tragflügel positioniert, so dass sich Probleme nicht nur in der Querruderwirkung, sondern auch beim Höhenruder bemerkbar machen. Was aber steckt als Ursache hinter diesen im Flugversuch beobachteten Phänomenen? Das ist eine berechtigte Frage, daher betrachten wir nun zunächst die Widerstandspolare. Willkürlich nehmen wir den Punkt Auftriebsbeiwert CL (=ca) von 0,5 bei Re=100.000 heraus und untersuchen diesen genauer. Der Flugzustand, der sich dahinter verbirgt, ist ein geringfügig beschleunigter Gleitflug.
Der Auftriebsbeiwert CL=0,5 links ist der Startpunkt, über Widerstandsbeiwert und Auftriebsanstiegskurve geht es nach rechts in das Umschlagsdiagramm. Die Abzweigung auf halbem Weg nach oben führt zum Momentenbeiwert, der negativ ist. Die Umschlagslage selbst sieht zunächst auf den ersten Blick mit knapp 70% auf der Profiloberseite und 100% auf der Profilunterseite unauffällig aus. Aber die Widerstände und auch der Momentenbeiwert von CM(2°)= -0,038 zeigen deutlich, dass hier mindestens ein Problem vorliegen muss, möglicherweise auch zwei. Nur welche Probleme sind das?
Das Diagramm der Wandreibungskoeffizienten Cf von Ober- und Unterseite ist zunächst etwas gewöhnungsbedürftig, aber es zeigt bereits das Problem. Bei einer Re-Zahl von 100.000 und Auftriebsbeiwert ca=0,5 sind größere Zonen mit Ablöseblasen vorhanden. Diese erkennt man an den negativen Wandreibungskoeffizienten, das bedeutet Rückströmung oder Rezirkulation und ist ein Nachweis für die Existenz von Ablöseblasen. Wie sieht die Grenzschicht dazu aus? Das Cf Diagramm habe ich hierzu in das bekannte Druckbeiwertsdiagramm CP eingefügt. Der reibungsfreie potentialtheoretische Druckbeiwert wird als gestrichelte Linie dargestellt, der reibungsbehaftete inkompressible Druckbeiwert als durchgezogene Linie. Dieses Diagramm sieht grausam überladen aus, aber so erkennt man auf einen Blick die direkten Zusammenhänge zwischen Profilauslegung und den unmittelbaren Folgen in der Grenzschicht.
Der von der Kontur erzwungene Druckanstieg verlangt von der Grenzschicht eine starke Verzögerung zur Endleiste, der sie bei dieser Re-Zahl nicht folgen kann und daher bildet sich auf der Profiloberseite eine Blase. Auch auf der Profilunterseite erfolgt am Ende ein zu starker Druckanstieg, daher gibt es eine laminare Ablösung. Den Druckanstieg zur Endleiste nennt der Aerodynamiker »Schließungsanteil«, weil sich hier die Druckdifferenzen von Ober- und Unterseite an der der Endleiste schließen. Man könnte das auch als Druckausgleich bezeichnen, aber der eingeführte Begriff ist Schließungsanteil, weil hier zusätzlich die Kutta-Bedingung gilt, was bei einem einfachen Druckausgleich nicht der Fall wäre. Auf zu starke Druckanstiege der Kontur und im Schließungsanteil reagiert die Grenzschicht mit laminarer oder turbulenter Strömungsablösung.
In der Abbildung ist der Fall bei CL=0,5 mit laminarer Ablöseblase auf der Profiloberseite und der laminaren Ablösung auf der Profilunterseite dargestellt. Der Grund für die schlechte Steuerbarkeit im Langsamflug ist auf der Profilunterseite zu finden, die Klappe rührt ohne Wirkung im Totwassergebiet herum. Beim Brett verwenden wir aufgrund der starken Wirksamkeit nur sehr kleine Klappenausschläge am Höhenruder und deswegen erreicht man sehr leicht den Bereich des Wirksamkeitsverlusts. Die laminare Ablöseblase der Profiloberseite verläuft über 37% der Profiltiefe, aber legt sich zumindest in dieser Analyse turbulent wieder an das Profil an. Diese Blase ist auch für den stark negativen Momentenbeiwert bei Re=100.000 verantwortlich, den man in der Widerstandspolare erkennen kann. Wie kann man nun aber ein derartiges Problem lösen, ohne das Modell gleich verschrotten zu müssen?
Die Lösung ist so einfach, wie altbekannt, das Zauberwort lautet: »Turbulatoren«. Das Ergebnis ist eine gleichmäßige Druckbeiwertsverteilung ohne größere Ablösungen. Warum sind die auf einmal wie von Zauberhand verschwunden? Die einfache Antwort ist, dass turbulente Grenzschicht größere Druckanstiege ohne Ablösung überwinden kann, als laminare. Warum das wiederum so ist, ist ein Thema aus der Stabilitätstheorie der Grenzschicht. Das sprengt etwas den Rahmen dieses Artikels, daher belasse ich es an dieser Stelle bei dieser einfachen Begründung auf erster Ebene.
Abschließend betrachten wir noch die Widerstandspolare, damit man die Auswirkung der Turbulatoren nachvollziehen kann. Bitte beachten, dass wir einen erzwungenen Umschlag vorliegen haben. Liegt ein Turbulator innerhalb einer Blase, funktioniert er genau so wenig, als wenn er zu dünn wäre. Ein Turbulator kann mit mehr oder weniger Blasenbildung zu einem Strömungsumschlag führen, muss es aber nicht. Gerade bei niedrigen Re-Zahlen erlebt man oft gar keine Wirkung von Turbulatoren, infolge der recht dicken Grenzschicht. Mit dem idealen Turbulator scheint das AR 193-S75 ein lammfrommes Profil zu sein, mit dem man sonntags in die Kirche gehen könnte. Das gute Ende einer langen Geschichte?
Das scheinbar perfekte Bild von der heilen Low-Rn Welt stimmt leider nur in der Simulation mit erzwungenem Strömungsumschlag (Forced Transition). Das hat mit der Realität draußen im Flugversuch leider wenig zu tun. Rechnerisch konnte die Gleitzahl in unserem willkürlich gewählten Punkt ca=0,5 von 22 auf 30 erhöht werden, was per se ein Erfolg ist. In Wirklichkeit beträgt der Unterschied sogar mehr Gleitzahlpunkte, wenn der Turbulator hierfür exakt identifiziert und angepasst wird, aber genau in diesem Kleingedruckten versteckt sich der Waterloo Faktor.
Wenn nur einer der Turbulatoren im Landeanflug nicht exakt passt, muss man das Brett ungespitzt in den Boden rammen, ansonsten driftet es unkontrollierbar quer über die Wiese und schlägt irgendwo ein. Die Gretchenfrage lautet also: Wie fliegt man das Brett nicht zu Schrott, bevor man den richtigen Turbulator gefunden hat? Man startet an der Profilnase mit grobem Zackenband und endet in einer Verbindung von 2D und 3D Turbulatoren bei 10..80% Profiltiefe. Dahinter verbirgt sich sehr viel Detailarbeit.
Dieser Hauptdruckanstieg beim AR 193-S75 funktioniert ungefähr bei Re 300.000 stabil, also ab 0,35-0,4m Profiltiefe. Wer einen dicken Koffer plant, hat größere Freiheiten bei der Profilwahl und dann darf es auch ein AR 193-S75 sein. Bei modernen Profilentwürfen findet man deswegen keinen so stark ausgeprägten Hauptdruckanstieg und Schließungsanteil, damit diese auch bei niedrigen Re-Zahlen zuverlässig funktionieren.
In der Retrospektive erscheint die Analyse, Auswertung und Lösung des Problems mit den heutigen Tools ausgesprochen trivial, aber damals war es eines der wenigen verfügbaren Brettprofile im Modellbaubereich. Martin Hepperle hatte für die FMT 10/88 mit dem Eppler-Code das AR 193-S75 simuliert und erhielt Blasenwarnungen auf der Profiloberseite bei Re=100.000 über den gesamten Anstellwinkelbereich, allerdings ohne Berechnung der Konsequenzen. Damals konnte man das mit dem 1988er Eppler-Code noch nicht berechnen. Mit X-Foil v6.99 oder dem aktuellen Eppler-Code ist das selbstverständlich kein Problem mehr, weil diese Mechanismen inzwischen intensiv erforscht wurden.
Das AR 193-S75 war das Profil von meinem ersten Brett, welches ich selbst entworfen, gebaut und geflogen habe. In der Zeitschrift FMT 5/88 war der Plot zum Kopieren noch ohne Koordinaten abgedruckt, also habe ich es wie damals üblich einfach kopiert. Mein Brettchen wog nur wenige hundert Gramm bei 25cm Profiltiefe, eindeutig zu wenig für das AR 193-S75. Im Alter von 13 Jahren fehlte mir das Wissen und die Flugerfahrung, um einer Dronte mit Hilfe von Zackenband das Fliegen beizubringen. Diese Erlebnisse hätten das Potential für ein Kindheitstrauma gehabt, aber führten im Endeffekt nur zu einem Paradigmenwechsel: Bevor ich Profile von anderen verwende, die nicht funktionieren, entwickle ich lieber selbst Profile, die nicht funktionieren!
Das AR 193-S75 hatte ich bereits vor vielen Jahren aus der Profilesammlung entfernt, weil es mir überholt und keine Relevanz mehr zu haben schien. Aber kriminelle Modellbauer haben das AR aus alten FMTs wieder ausgegraben und diskutieren 25 Jahre später in Internetforen, was es mit diesem Profil auf sich haben könnte. Das Profil verzaubert Rippenbauer wie eine schöne Frau durch die gerade Profilunterseite, aber auf der Profiloberseite lauert ein massiver Hauptdruckanstieg auf Beute. Wer ein Brett mit 3-25 kg Fluggewicht, 3-6 m Spannweite und 0,35..1,0m Profiltiefe bauen möchte, sollte mit dem AR 193-S75 wirklich kein Problem haben. Es gilt wie immer: Alles nur eine Frage des Einsatzbereichs!
Das geglättete Profil habe ich nur für diese Simulationsrechnungen zur Diskussion des Profils erstellt und möchte damit niemanden motivieren, dieses Profil zu erproben. Vielmehr eignet es sich als gutes Lehrbeispiel, was man beim Brettprofilentwurf zu beachten hat. Ende der 1980er Jahre war trotz der Messungen von Althaus wenig bekannt, wie sensibel die laminare Grenzschicht bei diesen ganz niedrigen Re-Zahlen auf den Hauptdruckanstieg reagiert. Lediglich Freiflieger hatten Erfahrungen mit diesen Problemen bis hin zur Unfliegbarkeit. Die Forschung des niedrigen Re-Zahlbereichs steckte damals noch in den Kinderschuhen.
Die größten Fortschritte habe ich, wie die meisten damals, über Versuch und Irrtum bei zahllosen und zum Teil grandiosen Fehlschlägen erzielt. Der Spruch mit dem Bunkerbau am Platz kommt nicht von ungefähr. Es war bei der SMG Langenhagen e.V. damals nicht ungewöhnlich, dass meine Experimente für ca. 3 Sekunden lang auf einer flugartigen Kurve beobachtet werden konnten, bis der Einschlag in den Erdboden dem Elend ein Ende zu bereiten schien. Zum Schrecken der lieben Vereinskameraden mussten sie eine Stunde später wieder in Deckung gehen, Sekundenkleber und Tape sei Dank. Rückblickend habe ich ein gewisses Verständnis dafür, dass der über den Platz gellende Ruf: »Ich habe die neue Schwerpunktlage! Kanal 66 frei?« damals Angst und Schrecken in der norddeutschen Tiefebene verbreitete. Aber irgendwann hatte ich ordentliche Profile, die richtige Schwerpunktlage und es wurde ruhiger am Platz. Hase und Igel haben sich kurz darauf gegenseitig aus langer Weile erschossen und es wurde ein Golfplatz direkt neben dem Modellflugplatz gebaut.
Die in der Flugerprobung aufgetretenen Probleme mit diesem Profil und viele eigene fehlgeschlagene Versuche waren im Endeffekt die Motivation für mich, zehn Jahre später (1998) im Internet bei AOL die Homepage »Siggi's Segelflugmodelle« und im Jahr 2000 das Nachfolgeprojekt »aerodesign« ins Leben zu rufen.
Neue Profile zu erproben erfordert Idealismus, denn das kann immer schief gehen. Deswegen gibt es gute Gründe, das exakte Gegenteil von dem zu tun, was hier in meinen Kommentaren und Empfehlungen nachzulesen ist. An mancher Stelle mache ich deswegen auf mögliche Abwege aufmerksam, die man gehen könnte. Der Mut, das Neue zu erproben, wird irgendwann belohnt. Alles wird gut!
Fazit: Aufgrund der Probleme mit laminaren Ablösungen nicht zu empfehlen.
Quellen- und Literaturnachweis
© Hartmut Siegmann 2014
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