Der Pfeilungseffekt

Hier habe ich ein paar Rechnungen mit Michael Möllers Programm gemacht, das auf dem Verfahren von Truckenbrodt basiert. Ich möchte hier die Abweichungen zwischen den Rechnungen der Gebrüder Horten und neuerer Verfahren in Bezug auf den Pfeilungseffekt aufzeigen.

Die Horten HII Verwindungsverteilung habe ich mit einem 4er Polygonzug angenähert (Bild 1). Selbst der überzeugteste Horten Anhänger wird hoffentlich die schlechte Bildqualität ignorieren aber doch zugeben müssen, daß das mit dem Polygonzug eine saugute Näherung ist. Deswegen ist der Flügel in 4 Abschnitte aufgeteilt, denen 5 Stützstellen zugewiesen sind. Das ist unten in den Übersichten (Bild 2) gut zu erkennen.

Dann habe ich mit Hilfe eines CAD Modells die sonstigen Daten für die Eingabe generiert, sie entsprechen den Daten der H II L ("Nurflügel" Seite 54/55). Ich habe dann eine komplette Nachrechnung anhand der bekannten Horten HII Daten gestartet, also die Auftriebsverteilung infolge dieser gegeben Geometrie nachgerechnet.


Bild 1: Näherung der HII Verwindungsverteilung durch Polygonzug

 


Bild 2: Übersicht der Horten HII gepfeilt und ungepfeilt

Jetzt habe ich die entpfeilte Variante gerechnet und die Ergebnisse mit der sin³d Kurve verglichen, im Bild 3 zu erkennen. Das Detail, daß ich die t/4 Linie hätte gerade gestalten müssen, vergessen wir hier mal, das wäre wirklich entpfeilt gewesen. Jetzt schauen wir uns den Vergleich der Soll und Istkurve an. Wir beginnen mit der ungepfeilten Variante:


Bild 3: Horten HII entpfeilt

Wir sehen, in der ungepfeilten Variante bei cA=1,0 liegen wir verdammt nah an der richtigen Kurve dran, die Abweichungen sind sehr gering und ich erlaube sie mir meinen Polygonzügen zuzuschreiben. Aber exakt so sahen die Ergebnisse der Rechnungen nach Schrenk/Lippisch aus, wie sie die Gebrüder Horten gemacht haben. Dieser Nachentwurf ist der Beweis, wenn die Pfeilung raus ist, erhalten wir fast exakt ihre Ergebnisse. Michael darf sich an dieser Stelle auch freuen, sein Programm funktioniert tatsächlich.


Bild 4: Horten HII gepfeilt

So, jetzt wird es interessant, das also ist der Pfeilungseffekt. Alles sonst identisch, aber eben gepfeilter Flügel. Der Auftriebseinbruch in der Mitte (oder besser Auftriebserhöhung außen) im Vergleich zur ungepfeilten Rechnung ist klar zu erkennen, außen erzeugt der Flügel aufgrund der Abflußströmung mehr Auftrieb. Aber wir sehen auch, daß das ganze sich bis nach außen hinzieht. Der Name "Mitteneffekt" sollte also schnellstens vergessen werden und tunlichst durch das nette Wort "Pfeilungseffekt" ersetzt werden.

Wir stellen hier im Vergleich zur ungepfeilten Rechnung ein kopflastiges Moment fest und das ist genau das, was die Jungs im Flugversuch festgestellt haben: die Schwerpunkte stimmten nicht! Was wir hier ja ganz klar nachweisen konnten.

Aber: Es handelt sich hier keineswegs um ein kopflastiges Moment im absoluten Sinn. JEDE Auftriebsverteilung bewirkt bei einem gepfeilten Flügel aufgrund des Hebelarms irgendwas im Momentenhaushalt. Daher kann man keine großen Erkenntnisse daraus nicht ziehen, außer man hat ein nicht geeignetes Verfahren gewählt, das merkt man an dieser Stelle.

Das also ist die beinharte ungeschminkte Wirklichkeit, der Mythos einer sin³d Glocke hat sich gründlich erledigt. Das ist irgendwas, aber eben nicht das geplante Werk. Das ist keine Kritik an Horten, zeigt aber, was prinzipiell los ist. Dafür haben sie ab der HIV dieses "Bürzel" zur Entpfeilung der t/4 Linie eingesetzt, darüber unterhalten wir uns gleich noch.

Gut, wir könnten uns jetzt ans Werk machen, eine echte Glocke hinzuzaubern, aber ob das wirklich Sinn macht, steht auf einem anderen Blatt. Ihre Experimente haben gezeigt, daß so eine Glocke reicht, das negative Wendemoment einigermaßen zu bekämpfen, obwohl sie nicht wußten oder besser gesagt nur ahnten, daß ihre Rechnungen nicht so ganz hinhauten. Es hat sich aber auch gezeigt, daß eine Verteilung näher an der Glocke (vgl.: HIV) doch besser im Handling ist.

Wir stellen fest, daß rechnerisches Verfahren und Realität nicht zusammen passen. Wir vermuten sogar, daß da die Mitte wohl weniger Auftrieb erzeugt oder der Außenflügel mehr, aber so genau wissen wir das zum Glück nicht. Anschließend drehen wir die Tiefenverteilung in der Mitte so hin, daß hier jetzt mehr Auftrieb erzeugt wird und verwenden unser altes Rechenverfahren weiter. Wir vergleichen ab jetzt unsere (falschen) Rechnungen anhand der berechneten SWP-lage mit den Ergebnissen aus dem Flugversuch und freuen uns dank lokaler Tiefenerhöhung in der Mitte, daß das zunehmend besser übereinstimmt. Anschließend nennen wir das ganze "Mitteneffekt" und behaupten, das Ei des Kolumbus entdeckt zu haben, weil wir meinen, die t/4 Linie lokal entpfeilt zu haben. Daß es sich ausschließlich um einen lokale Auftriebserhöhung (ca*t) dank Tiefenverteilung mit entsprechenden Auswirkungen handelt, interessiert uns zum Glück nicht.

Nein, keine Frage, zum Bau von Flugzeugen gehört verdammt viel mehr als so eine Kleinigkeit am Rande. Aber das Beispiel zeigt, daß man vorsichtig beim Umgang mit Theorien sein muß, wenn man sich möglicherweise in den Grenzbereich der Gültigkeit bewegt. Die Realität an die Theorie anzupassen ist nicht die beste Idee, aber manchmal eben doch, wenn aus den falschen Gründen empirisch das richtige getan wird... Und das ist die Intuition, die den guten Flugzeugbauer vom schlechten unterscheidet!!!


Bild 5: Horten HIX (S.135)


Bild 6: Modell von Noffz (S.92)

So, jetzt kommen wir wieder zu den kleinen unerkannten Genialitäten bei den Horten-Nurflügeln. Es macht trotzdem Sinn, in der Mitte lokal die Tiefe zu erhöhen, weil man damit die Auftriebsverteilung glättet. Und solange man keine Klappen einbaut, freut sich der cwi! Bei der Tiefenerhöhung haben wir leider ein Problem: das mit den Klappen haut mechanisch nicht vernünftig hin.

Sobald wir Klappen setzen ist bei Variante HIX (Bild 5) der Teufel beim cWi los und bei der Variante von Noffz (Bild 6) erfreuen uns mit netten Tütenwirbeln im Langsamflug, dafür können wir aber die Klappen bis ganz in die Mitte bauen. Strakes sind was feines, wenn ich Turbinen drin habe, ansonsten leider weniger, speziell wenn ich mich segelnder Weise fortbewegen möchte.

Hm, jetzt fängt Professor Schönherr an, über "Entennurflügel" zu philosophieren. Der Unterschied besteht darin, daß er lokal den Mittenbereich stark verwindet (und zugleich schränkt), wohingegen außen nicht verwunden wird. Im Endeffekt tun "hinten" und "vorne" Verwinder im groben und ganzen dasselbe, sie erzeugen dank der Pfeilung eine Anstellwinkeldifferenz zwischen "vorne" und "hinten" liegenden Profilen. Dahinter steckt ein wichtiger aerodynamischer Grundsatz:

Der vorauseilende Flügel ist stärker als der nacheilende anzustellen!

Der Unterschied liegt nun darin, daß die Leute, die vorzugsweise in der Mitte verwinden, nicht nur ihre Verwindung einbauen, sondern zugleich die Auftriebsverteilung glätten. Ganz haut das zum Glück nie hin, egal wierum, es paßt nie so ganz.
Ob das vielleicht Gottes Gerechtigkeit ist? Ich weiß nicht... Hier ist jetzt aber im Gegensatz zum Hortenschwänzchen auf jeden Fall Platz und Raum, irgendwelche Flügelklappen unterzubringen, weil kein Tiefensprung nervt.

Hm, also kann man für die Lösung desselben Problems zwei Maßnahmen ergreifen: Tiefe erhöhen oder Anstellwinkel vergrößern. Entdecken wir was? Einen alten aerodynamischen Lehrsatz, schreibt ihn Euch hinter die Ohren, auf die Nase und laßt in Euch auf den rechten und linken Unterarm tätowieren:

Was lokal an Auftrieb fehlt, kann durch eine lokale Tiefenerhöhung und/oder Anstellwinkelerhöhung ausgeglichen werden!

So. Wir haben uns verstanden, weil ca*t die Auftriebsverteilung ist, dahinter stehen ja "lokaler Anstellwinkel" multipliziert mit "lokaler Tiefe". Damit haben wir das Klappenproblem in der Mitte sehr elegant gelöst, indem wir mittig gerade so viel verwinden, bis unsere Auftriebsverteilung stimmt. Leider trifft das exakt nur für genau einen Auftriebsbeiwert, aber im Endeffekt paßt es ganz gut für den Auftriebsbereich, in dem wir meist unterwegs sind. Die Tiefenerhöhung hat zwar den Vorteil, sich recht ca-neutral zu verhalten, zugleich leider den Nachteil, extrem unpraktikabel zu sein, was die Anordnung von Klappen betrifft. Also egal wierum, irgendein scheiß ist immer, laßt uns zur Säge greifen...


Was lernen wir vom Pfeilungseffekt?
Ihr wollt einen Nachentwurf 1:1 nach Horten rechnen? Dann einfach die Geometrie abgesehen von der Pfeilung exakt beibehalten, ihr nehmt dieses Programm von Michael und seid glücklich. Ein Programm, das als Ergebnis die Verwindungsverteilung rausschmeißt, wäre natürlich das nonplusultra für so einen Nachentwurf, aber man kann nicht alles haben und dieses hier ist ein sauguter Anfang, wie ich finde.

Allerdings hat mich Reinhold Stadler darauf hingewiesen, daß laut Nickel oftmals lineare Verwindungsverteilungen zum Einsatz kamen. An sich logisch, wenn man den Rechenaufwand zur damaligen Zeit berücksichtigt. Das heißt, die wirklich gebauten Verwindungsverteilungen liegen bei den verschiedenen Typen mehr oder minder im Dunkeln. In dem Zusammenhang kann ich nur an Reinhold Stadler und Edward Uden verweisen, die beide sehr umfangreiches Archivmaterial zu den verschiedenen Typen über die Jahre zusammengetragen haben. Dafür bin ich nicht der richtige Ansprechpartner...

Michaels Programm hat leider Probleme in Bezug auf eine halbwegs exakte Berechnung des Auftriebsanstieges, aber das liegt am internen Ansatz des Programmes. Ansonsten ist es etwas kritisch bei ungünstigen Verwindungsdaten, es rechnet einfach nicht, das Papier bleibt weiß, also nichts schlimmes, man sieht also, wenn es nicht rechnet. Und nicht vergessen: im datasheet überall Zahlen eingeben. Dann kann eigentlich nichts schiefgehen und ihr habt genauso viel Spaß wie ich mit dem Programm.

 

© Hartmut Siegmann 2001